JHC 2016: Qualität vs. Mitarbeiterüberforderung

“Legen Sie sich ein­mal in ein Pfle­ge­bett, las­sen Sie sich von Ihren Kol­le­gen fixie­ren und ver­blei­ben Sie dann allein im Zim­mer.” Mit die­sem unge­wöhn­li­chen Vor­schlag for­der­te Rechts­an­walt Hubert Klein die rund 550 Besu­cher des JHC, der am 21. April 2016 in Köln statt­fand, zu einem Wech­sel der Per­spek­ti­ve auf.

Das ein Per­spek­tiv­wech­sel recht ein­drucks­voll ablau­fen kann, zeig­te sich bereits in der Begrü­ßungs­re­de des JHC-Initia­tors: Prof. Dr. Vol­ker Groß­kopf von der Katho­li­schen Hoch­schu­le NRW voll­zog auf der Büh­ne gleich drei ein­fa­che Übun­gen, anhand derer eine mög­li­che Sturz­ge­fähr­dung bei einem Betrof­fe­nen fest­stell­bar ist, und for­der­te die Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer im tra­di­tio­nel­len Sar­to­ry-Saal zu Köln auf, es ihm gleich zu tun.

Den Anfang der Vor­trags­red­ner mach­te Prof. Dr. Gabrie­le Mey­er von der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le-Wit­ten­berg mit der pro­vo­kan­ten Fra­ge­stel­lung “Ist der Exper­ten­stan­dard Sturz­pro­phy­la­xe in der Pfle­ge der Weis­heit letz­ter Schluss?” Mey­er, die selbst an der Erst­ver­öf­fent­li­chung des­sel­bi­gen (2006) mit­ge­wirkt hat­te, ant­wor­te­te hier­auf mit einem kla­ren “Nein”. Sie kri­ti­sier­te unter ande­rem, dass der Exper­ten­stan­dard inter­na­tio­nal aner­kann­te, wis­sen­schaft­li­che Qua­li­täts­kri­te­ri­en weit­ge­hend unbe­rück­sich­tigt lässt. Eben­so bemän­gel­te sie die mono­pro­fes­sio­nel­le Aus­ge­stal­tung des Stan­dards für ein The­ma, wel­ches eine inter­dis­zi­pli­nä­re Her­an­ge­hens­wei­se benö­tigt. Auch wären bei vie­len der im Stan­dard auf­ge­führ­ten Inter­ven­tio­nen die Emp­feh­lungs­stär­ke nicht ersicht­lich. “Für Stop­per­so­cken gibt es noch kei­ne Evi­denz”, ergänz­te Prof. Meyer.

Eine gute Sturz­prä­ven­ti­on hat aber nicht nur den medi­zin- und pfle­ge­fach­li­chen Stan­dards zu genü­gen, son­dern soll auch das Recht auf Frei­heit und Selbst­be­stim­mung des Sturz­ge­fähr­de­ten ach­ten. Das hier­aus resul­tie­ren­de Span­nungs­feld the­ma­ti­sier­te der auf das Betreu­ungs­recht spe­zia­li­sier­te Köl­ner Rechts­an­walt Hubert Klein. In sei­nem Vor­trag ging er ins­be­son­de­re auf die Pro­ble­ma­tik von Frei­heits­ent­zie­hen­den Maß­nah­men (FEM) ein. In die­sem Zusam­men­hang warb er für eine kon­se­quen­te Umset­zung des “Wer­den­fel­ser Wegs”, einer Ver­fah­rens­wei­se zur Redu­zie­rung von Pati­en­ten- und Bewohnerfixierungen.

Sturzprävention aus medizinischer Sicht

Im Anschluss wur­de das The­ma “Sturz” aus der medi­zi­ni­schen Sicht beleuch­tet: PD Dr. Hel­mut Frohn­ho­fen, Direk­tor des Esse­ner Zen­trums für Alters­me­di­zin, stell­te zunächst die im Alter rele­van­ten Sturz­ri­si­ko­fak­to­ren vor. Unter die­sen sticht die zuneh­men­de Schwä­chung der Mus­ku­la­tur beson­ders her­vor. Dar­aus fol­gend emp­fiehlt Frohn­ho­fen ein Prä­ven­ti­ons- bzw. Behand­lungs­kon­zept, das unter ande­rem die Durch­füh­rung von Kraft‑, Balan­ce- und Gang­trai­nings beinhal­tet. Auch Stu­di­en konn­ten den den posi­ti­ven Effekt von kör­per­li­chem Trai­ning im höhe­ren Lebens­al­ter auf die Sturz­ge­fähr­dung aufzeigen.

Nach der Mit­tags­pau­se gab Prof. Dr. Micha­el Isfort, Pfle­ge­wis­sen­schaft­ler und Ver­sor­gung­for­scher an der Katho­li­schen Hoch­schu­le NRW sowie Stell­ver­tre­ten­der Geschäfts­füh­rer des Deut­schen Insti­tuts für ange­wand­te Pfle­ge­for­schung e.V. (dip), einen Über­blick über die Per­so­nal­si­tua­ti­on in der Pfle­ge. Neu­es­te Zah­len des dip machen deut­lich: Der Pfle­ge­per­so­nal­markt ist bun­des­weit leer­ge­fegt! “Im Grun­de kön­nen Sie der­zeit alles zum The­ma Per­so­nalan­wer­bung ver­ges­sen. Es gibt schlicht­weg ein­fach kein Per­so­nal zum anwer­ben,” so Isfort. Abhil­fe aus dem Aus­land sei auch nicht zu erwar­ten. Denn: “Deutsch­land ist kein Pfle­ge-Ein­wan­de­rungs­land, son­dern ein Transitland.”

Pfle­ge­po­li­tisch blieb es auch beim letz­ten Vor­trag: Der CDU-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te und zugleich Mit­glied im Gesund­heits­aus­schuss, Erwin Rüd­del, stell­te die gegen­wär­ti­gen und zukünf­ti­gen Ent­wick­lun­gen im Gesund­heits­we­sen vor. Kern­punk­te sei­nes Vor­tra­ges waren unter ande­rem die durch das zwei­te Pfle­ge­stär­kungs­ge­setz (PSG II) vor­ge­nom­me­nen Rechts­än­de­run­gen (z.B. neu­er Pfle­ge-TÜV), die Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung und das anste­hen­de drit­te Pflegestärkungsgesetz.

Auch Satellitensymposium auf dem JHC

Beglei­tend zum Haupt­pro­gramm des Kon­gres­ses 2016, fand im gegen­über­lie­gen­den Oster­mann-Saal auch ein Satel­li­ten­sym­po­si­um mit drei Vor­trä­gen zum The­ma “Sturz” statt: Der freie Pfle­ge­be­ra­ter Sieg­fried Huhn stell­te das Sturz­as­sess­ment als Grund­vor­aus­set­zung einer ziel­füh­ren­den Sturz­pro­phy­la­xe vor. Dem­ge­gen­über ging Prof. Dr. Vol­ker Groß­kopf in sei­nem Vor­trag auf das Selbst­be­stim­mungs­recht im Zusam­men­hang mit Sturz ein. Der Rechts­an­walt und Ver­si­che­rungs­exper­te Ste­fan Knoch leg­te hin­ge­gen die Haf­tungs­si­tua­ti­on der Pfle­ge­ein­rich­tun­gen dar. Das Satel­li­ten­sym­po­si­um wur­de vom bekann­ten Pfle­ge­bet­ten­her­stel­ler Stie­gel­mey­er aus Her­ford aus­ge­rich­tet. Dane­ben erwar­te­te die Besu­cher eine Fach­aus­stel­lung der Gesundheitsindustrie.

Der JHC beleuch­tet regel­mä­ßig aktu­el­le The­men im Span­nungs­feld zwi­schen Medi­zin, Pfle­ge und Recht. Der 10. JHC 2017 wird am 18. Mai kom­men­den Jah­res erneut in den Köl­ner Sar­to­ry-Sälen statt­fin­den und dann unter dem Mot­to “Pfle­ge­kol­laps oder Beschäf­ti­gungs­mo­tor? Demo­gra­fie ist kein Schick­sal” stehen.

Die­ser Bei­trag erschien erst­mals in der Fach­zeit­schrift Rechts­de­pe­sche.